Neun Geschichten über Neunaugen

Zeitloses Design

Neunaugen leben zwar zeitlebens im Wasser und haben Kiemen und Flossen, aber mit allen anderen Fischen, die heute in der Schweiz leben, sind sie nur entfernt verwandt.  Die Neunaugen gehören zu den letzten Überlebenden der urtümlichsten Wirbeltiergruppe auf unserem Planeten.

Erste Spuren dieser Geschöpfe kennt man aus dem Kambrium, einem Zeitalter vor über 500 Millionen Jahren, als es noch keine Landlebewesen gab. Ihr Bauplan funktioniert also schon seit Urzeiten. Neunaugen besitzen eine primitive Wirbelsäule aus Bindegewebe, aber weder Knochen noch Kiefer wie beispielsweise moderne Fische. Man nennt sie deshalb in der Zoologie Kieferlose (Agnatha) oder Rundmäuler (Cyclostomata).

Mit ihrem Saugmaul, der scharfen Raspelzunge und den spitzen Hornzähnen waren sie in all den Jahrmillionen in der Lage sich erfolgreich als Parasiten oder Aasfresser zu behaupten. Sie ernährten sich erfolgreich von einer unvorstellbaren Vielzahl von Wasserlebewesen. Von längst vergessenen Urfischen und Meeressauriern bis zu den modernen Knochenfischen unserer Gegenwart. Das Neunaugen-Design ist zeitlos erfolgreich. Erst der Mensch hat es mit seiner massiven Veränderung der Lebensräume geschafft diese lebenden Fossilien in ernsthafte Bedrängnis zu bringen.

Neun Augen?

Präzise Naturbeobachtungen und Beschreibungen von Tierverhalten gibt es noch gar nicht so lange. Der deutsche Name für diese ungewöhnlichen Wasserwesen ist im frühen Mittelalter entstanden, als die Menschen die Welt noch ganz anders erlebten als wir, und die Grenzen zwischen Märchen, Glauben und Wissen noch fliessend waren.

Zu jener Zeit erkannte man auf beiden Seiten der schimmernden kleinen Kreaturen neun dunkle Flecke, die man als Augen deutete. Bei genauerem Hinsehen wurde den ersten Naturwissenschaftlern vor bald 300 Jahren klar, dass es sich dabei um ein Auge, ein Nasenloch und sieben Kiemenöffnungen handelt. Doch der Name dieser damals allgegenwärtigen und häufigen Tiere war bereits so tief verankert, dass ihre Erkenntnisse daran nichts mehr änderten.

Der Schwede Carl von Linné, der um 1750 die zoologische Nomenklatur von Pflanzen und Tieren einführte, taufte die Neunaugen Petromyzontidae. Dieses Wort stammt aus dem Griechischen und bedeutet Steinsauger. Auch für die alten Römer war dieses Verhalten so auffällig, dass sie die Neunaugen als lampretae bezeichnetenIhre Wortschöpfung bedeutet Felsenlecker. Daraus leitet sich das italienische lampreta, das französische lamproie und das englische lamprey ab.

Spannend ist auch das Wort Querder. So nennt man den wurmähnlichen Nachwuchs der Neunaugen. Das althochdeutsche Querdar bedeutet soviel wie Lockmittel. Im Lauf der Jahrhunderte wurde daraus das deutsche Wort Köder. Neunaugen und ihre Larven waren damals offensichtlich so häufig, dass als Inbegriff für einen Köder galten. Das macht deutlich, wie bedenklich die Tatsache ist, dass Meer-, Fluss- und Bachneunauge heute im deutschen Sprachraum entweder ausgestorben sind oder auf der Roten Liste stehen!

Ein riskanter Lebensstil

Das Neunauge ist wie alle Wanderfische empfindlich gegenüber Veränderungen. Grund dafür sind die weiten Wanderwege mit all ihren Gefahren und Hürden sowie die speziellen Anforderungen an die Laichplätze und den Lebensraum für den Nachwuchs. Ein einziger Damm genügt, um die Population eines gesamten Flusssystems von ihren Laichplätzen abzuschneiden!

Das biologische Prinzip hinter räumlich getrennten Lebensphasen ist die bessere Nutzung von Ressourcen und das Vermeiden von Konkurrenz zwischen den verschiedenen Altersstadien. Das ist eigentlich eine clevere Strategie, doch sie wird zum Risiko, sobald einer dieser Lebensräume knapp oder die Mobilität eingeschränkt wird. Beides geschieht in der Schweiz seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Deshalb ist das Flussneunauge bei uns ausgestorben und das Bachneunauge auf der Roten Liste!

Die Schweiz ist ein starkes Beispiel, wie Wanderfische auf menschgemachte Veränderungen reagieren. Vor dem intensiven Bau von Wasserkraftwerken, der in Mitteleuropa um 1900 begann, erreichten in günstigen Jahren neben Zehntausenden von Lachsen auch unzählige Flussneunaugen den Schweizer Rhein und seine Zuflüsse. Doch dann verhinderten innert kurzer Zeit Dutzende von Kraftwerkswehren die Hochzeitsreise vom Meer in die Alpen. Rasch verschwanden diverse Arten. Zuerst im Rhein, später auch aus der Rhône und dem Ticino. Nicht nur ein ökologischer, sondern auch ein wirtschaftlicher und kultureller Verlust für die Schweiz! Mittlerweile wandert das Flussneunauge dank den Anstrengungen zur Wiederansiedlung des Lachses im Rhein wieder bis in den Oberrhein 50 Kilometer nördlich von Basel. Hier blockieren momentan noch französische Kraftwerkswehre ihre Weiterreise in die Schweiz.

Orgien im Bach

Das Bachneunauge liebt Orgien. Oder um es nüchtern wissenschaftlich zu formulieren: Das kleinste Rundmaul Europas laicht mit Vorliebe in grösseren Gruppen, die bis zu 100 Individuen umfassen können. Für unsere Vorfahren waren die ekstatisch ineinander verwickelten Neunaugen am Flussgrund ein vertrauter Anblick im Frühling.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Den geschickten Fischern unter ihnen blieb nicht verborgen, dass diese auffälligen Versammlungen zuverlässig Raubfische anlockten. Die leidenschaftlich ins Laichgeschäft vertieften Tierchen waren einfache Beute!Sie verwendeten Neunaugen mit Erfolg als Köder.

Als es schwieriger wurde Neunaugen zu fangen, versuchte man das attraktive Gewimmel mit Lederstreifen, Federn, Gummi oder Weichplastik zu imitieren. Besonders für den Huchen, einen grossen räuberischen Flusssaibling, der im Einzugsgebiet der Donau (Österreich, Süddeutschland, Balkan) vorkommt, gilt der so genannte Neunaugenzopf bis heute als attraktive Methode der Verführung.

Ein Leben als Larve

Sie sind blind und graben sich enge Gänge durch den Sand oder Schlamm am Gewässergrund. Ihr ganzes Leben spielt sich auf wenigen Quadratzentimetern ab. Die Bachneunaugenlarven, man nennt sie auch Querder, filtern das Wasser ähnlich wie Muscheln und ernähren sich von Mikroorganismen und organischem Material.

Bild: Mike Krüger, Spree

Nach drei bis fünf Jahren und einer Länge von 10 bis 15 Zentimetern beginnt eine Metamorphose, die vier bis sechs Wochen dauert.

In dieser Zeit formt sich die typische Saugscheibe, es entwickeln sich Augen und die Eier bzw. Spermien reifen heran. Gleichzeitig bildet sich der Verdauungstrakt zurück.

Die geschlechtsreifen Bachneunaugen fressen nicht mehr und leben nur wenige Monate bis zu ihrer Hochzeit. Kurz danach sterben sie. Mit der Fortpflanzung ist ihr Lebenszweck erfüllt. Da sie nicht mehr wandern, sind sie als Nahrungskonkurrenten für den Nachwuchs unerwünscht.

Dieser Lebenszyklus erinnert stark an Wasserinsekten wie die Eintagsfliegen und macht uns bewusst, wie flexibel (und gnadenlos effizient) die Natur ist, wenn es darum geht, verfügbare Nischen und Ressourcen optimal zu nutzen.

Unterwasser-Vampire

 

Das Bachneunauge, das sich nach seiner Metamorphose nur noch von Wasser und Liebe ernährt, ist in seiner Familie ein Exot.

Die meisten Neunaugen-Arten leben nämlich als Parasiten. Zum Beispiel das eng verwandte Flussneunauge oder das Meerneunauge, das  früher ebenfalls zur Fortpflanzung in Schweizer Gewässer aufstieg.  

Sie heften sich an Fische oder selten auch an Robben, Delphine oder Wale. Mit ihrer zahngespickten Zunge raspeln sie ein Loch durch die Haut. Hochwirksame Substanzen in ihrem Speichel betäuben die Schmerzempfindung, hemmen die Blutgerinnung und lösen das Gewebe auf.

Parasitische Neunaugen ernähren sich von Blut und dem vorverdauten Brei aus Haut- und Muskelgewebe. Nicht selten sterben ihre Wirte am Blutverlust oder an den zugefügten Wunden.

Übrigens:

Die gerinnungshemmenden und schmerzunterdrückenden Substanzen im Speichel der Unterwasservampire versprechen wirkungsvolle pharmazeutische Wirkstoffe und werden seit Jahren intensiv untersucht.

Die typischen kreisförmigen Narben sind ein vertrauter Anblick in Gewässern, wo Neunaugen noch häufig vorkommen. Von Meeresneunaugen sind sogar Attacken auf Menschen bekannt.

Da der Mensch im Unterschied zu den normalen Wirten des blutsaugenden Parasiten Hände besitzt, kann er die unfreundlichen Annäherungsversuche aber mit einem beherzten Griff beenden und kommt mit dem Schrecken und harmlosen Schrammen davon.

Begehrt seit Menschengedenken

Neunaugen waren ursprünglich häufig in einer Vielzahl europäischer Fliessgewässer und wegen ihres aromatischen, fetthaltigen Fleischs sehr begehrt. Sie werden schon vor 2000 Jahren in römischen Schriften als Delikatesse beschrieben. Im Mittelalter gehörten sie als Leckerbissen zu einer adligen Tafel wie heute das Lachsbrötli zu einem festlichen Apéro. Vom englischen König Henry dem Ersten wird sogar überliefert, er sei an einem allzu üppigen Neunaugenmahl gestorben.

Der Schweizer Naturkundler Gesner schrieb um 1550: «Sind zur Frühlingszeit gantz gut und löblich, je grösser, je besser. Sehr angenem und lieblich sind sie zu essen: geben ein dickes und schleimiges Geblüt, auss Ursach man sie mit gutem Wein vnd Gewürtz bereyten soll.»

In Norddeutschland waren Neunaugen gebraten, geräuchert oder eingelegt in Aspik, bis in die 1950er-Jahre landläufige Gerichte. An den Atlantikküsten Portugals, Spaniens und Frankreichs Frankreich gelten die grossen Meeresneunaugen auch heute noch als traditionelle Spezialität: Lamproie à la bordelaise ist ein Klassiker der französischen Regionalküche und wird mit bestem Rotwein zubereitet. In Lettland, Schweden und Finnland gehören Neunaugen (Fluss- und Meerneunaugen) zum kulinarischen Erbe und sind Teil der neuen skandinavischen Küche, die weltweit Furore macht mit ihrer radikalen Rückbesinnung auf lokale Ressourcen und Traditionen.

Das Neunauge als Wappentier

Die enorme Wertschätzung des Menschen für Neunaugen widerspiegelt sich auch in den diversen Wappen, in denen das Neunauge vor allem in Nordosteuropa und Skandinavien im Sinn des Wortes auftaucht. Neunaugen zieren Fahnen gerade oder gekrümmt, dynamisch schwimmend oder schneckenförmig gewunden,  verknotet oder eine andere Wappenfigur umringelnd. Auch der Neunaugenring, bei dem sich die Kreatur in den eigenen Schwanz verbeisst, ist ein gängiges Motiv. Neunaugen werden gerne auch als Beute stilisiert. Dann zappeln sie zwischen Schnäbeln, Pranken, Krallen oder Scheren eines anderen Wappentiers.

Monster, Plage, Katastrophe!

Und dann gibt es noch diese Geschichte:

das grösste und häufigste Familienmitglied der Neunaugen gilt in Nordamerika als Inbegriff einer ökologischen Katastrophe. Allerdings hat auch das mit einem fatalen Eingriff des Menschen in die Natur zu tun.

Das Meerneunauge wanderte seit Menschengedenken über den St. Lorenz-Strom in den Ontariosee und laichte in dessen Zuflüssen. Im See selber war das Neunauge relativ selten. Die jungen Meerneunaugen bevorzugten die Rückkehr ins Meer und die ungleich ergiebigeren Jagdgründe dort. Dann verlangte die Industrialisierung nach schnelleren Handelswegen. Ende des 19. Jahrhunderts baute man den Welland-Kanal und umging damit die weltberühmten Niagara-Fälle, die bisher den Aufstieg der Meerneunaugen in Eriesee und die drei weiteren Grossen Seen (Huron, Michigan und Superior) blockiert hatten. Nun stand den Fischparasiten plötzlich ein massiv grösserer Lebensraum offen!

Mit unglaublicher Vitalität eroberte der uralte Fischparasit das neue Territorium, erschloss sich Hunderte von Flüssen als neue Laichgewässer und begann den Fischreichtum der riesigen Seen zu nutzen, anstatt sich den weiten Weg zurück ins Meer anzutun.

 

Innert weniger Jahrzehnte dezimierte das Meerneunauge die Bestände einiger Fischarten um bis zu 95 Prozent. Das ökologische Gleichgewicht verschob sich komplett und als Folge vermehrten sich weitere über den Kanal eingewanderte Fischarten explosionsartig und verdrängten die ursprünglichen Arten weiter. Als fatale Folge brach in den 1950er-Jahren die ehemals sehr ergiebige kommerzielle Fischerei komplett zusammen und zehntausende Stellen gingen verloren.

Nun begann die Bekämpfung der Meerneunaugen. Die komplizierte Aufgabe hat zur Entwicklung hochspezifischer Methoden geführt. Am erfolgreichsten ist der Einsatz von rasch abbaubaren Fischgiften (z.B. TFM Trifluoromehylnitrobenzol) zur Laichzeit der Neunaugen. Die USA und Kanada geben bis heute jährlich viele Millionen aus, um die Invasion der Neunaugen in den Griff zu bekommen.