Alet-Geschichten

Dickschädel, Mausbeisser, Flusshai

Menschen gaben den Tieren und Pflanzen in ihrer Welt Namen, lange bevor es die Schrift und Bücher gab. Sie wurden mündlich von Generation zu Generation weitergegeben. In Familien, Sippen und Dörfern. Die Folge war eine verwirrende Vielfalt. Es gehörte zu den wichtigsten Anliegen der ersten Biologen dieses Wirrwarr zu ordnen. Sie erfanden dafür die so genannte wissenschaftliche Nomenklatur. Diese verspricht eine einheitliche Bezeichnung, die es erlaubt selbst über Sprachbarrieren hinweg verlässlich vom selben Fisch, Schmetterling oder Baum zu sprechen.

Im wissenschaftlichen Namen des Alet Squalius cephalus steckt das lateinische Wort squalus. Es bedeutet Hai. Mit den urtümlichen Knorpelfischen ist der Alet zwar nur sehr entfernt verwandt, aber er besitzt tatsächlich einen ähnliche Silhouette. Sein zweiter Name cephalus stammt aus dem Griechischen und bedeutet Kopf. Offensichtlich war der schwedische Zoologe Carl von Linné, der den Namen prägte, tief beeindruckt vom breiten Schädel des Alet.

Durch die ersten Natur-Lexika und Lehrbücher im Spätmittelalter (z.B. die Historia animalium von Conrad Gesner) begann eine Vereinheitlichung der Tier- und Pflanzennamen. Beim Fisch des Jahres 2021 ist das ziemlich eindrücklich gelungen. Der Name Alet ist heute gesamten alemannischen Sprachraum (Deutschschweiz, Vorarlberg, Baden Württemberg) geläufig, über seine Herkunft und Bedeutung wird gerätselt. Das gilt auch für das Wort Aitel, das man in Bayern und Österreich benutzt. Der Name Döbel, der in der Mitte und im Norden Deutschlands üblich ist, ist verwandt mit dem Dübel und spielt auf die keilförmige Form des Fisches an. Regional nennt man den Döbel auch Dickkopf, Rohrkarpfen, Mausbeisser, Knilps oder Mülwe.

In der Westschweiz spricht man wie in Frankreich von le chevaine oder le chevesne. Regional nennt man ihn auch cabot, cabeda oder meunier (Müller).

Im Tessin und in Italien heisst der eng verwandte südliche Cousin des Alet cavedano. Die englische Bezeichnung chub, nimmt wie viele andere Namen des Alet Bezug auf den auffällig rundlichen, dicken Kopf. Bei vielen Fischarten war der Volksmund nicht besonders einfallsreich.

Eine Schwäche für Fructose

Der Alet ist der Fuchs unserer Fischfauna. Bei der täglichen Jagd auf Kalorien ist er beeindruckend anpassungsfähig und flexibel. Die Jungfische fressen zunächst Plankton und erweitern ihr Menü, je grösser sie werden. Ausgewachsene Alet nutzen ihr breites Maul, um je nach Angebot Beute von der Eintagsfliegenlarve bis zur fetten Wühlmaus zu fressen. Tatsächlich verschmäht der Alet fast nichts, was er mit seinen Kiefern packen, festhalten und herunterschlucken kann. Im Unterschied zu den meisten Raubfischen hat er allerdings eine seltsame Schwäche für Süsses. Sie zeigt sich in einem ungewöhnlichen Schauspiel. Eines Tages im Juni werden die Alet unruhig und beginnen Stellen zu suchen, wo Kirschbäume so nah am Ufer wachsen, dass ihre reifen Früchte ins Wasser plumpsen.

Mit beeindruckender Gier schiessen selbst kapitale Kaliber auf die langsam sinkenden Früchte los. Ihre Erregung überträgt sich oft auf das ganze Rudel, das erwartungsvoll unter dem „Spenderbaum“ kreist. Erfahrene Angler wissen das zu nutzen und servieren das begehrte Steinobst an einem feindrähtigen Chriesi-Haken. Später im Jahr sind es Brombeeren, Mirabellen oder Holunder, die das eiweissreiche Alet-Menü mit dem heissgeliebten Fruchzucker bereichern.

Ein Unfisch?

Der Mensch unterscheidet seit er seine Umwelt nachhaltig beeinflussen kann zwischen Arten, die ihm lieb und teuer sind und solchen, die diese innige Beziehung stören. Die einseitige Bevorzugung hat Wörter hervorgebracht wie Nutzpflanze und Unkraut, Nützling und Schädling oder eben Edelfisch und Ruchfisch. Der Alet gilt in vielen Regionen seines Verbreitungsgebiets als kulinarisch unedel. In der Regel dort, wo es (zumindest früher) üppige Bestände von Salmoniden wie Lachs, Forelle und Äsche gab.

    

Vor allem in Forellenbächen betrachtete man den Alet, seit über ihn geschrieben wird, mit Argwohn. Man hält ihm auch heute noch vor, dass er ein Laichräuber sei und den Forellennachwuchs dezimiere. Die Empörung darüber ist bei näherer Betrachtung einseitig und polemisch. Jeder gesunde Fisch frisst Laich, wenn sich die Gelegenheit bietet. Mehr wertvolle Kalorien pro Maulvoll sind in der Natur kaum zu haben. Dasselbe gilt für kleine Fischchen. Was ins Maul passt, wird verschlungen. Die negative Bewertung des ganz natürlichen Vorgangs geschieht „im Auge des Betrachters“. Wenn sich nämlich eine Forelle am Aletnachwuchs gütlich tut, dann „veredelt sie das natürliche Futterangebot“.

Man kann einwenden, dass in vielen ehemals reich mit Forellen bevölkerten Bächen heute tatsächlich der Alet dominiert. Doch dieser Zustand bestätigt das dämonische Bild des forellenverschlingenden Bösewichts nur auf den ersten oberflächlichen Blick. Tatsächlich ist der Siegeszug des Alet ein Symptom für die Veränderungen der Umwelt, beispielsweise die chronische Erwärmung der Gewässer, von der er und andere temperaturtolerante Fischarten profitieren.

 

 

Der Bronzeritter

Beim genaueren Betrachten eines Alet fällt das ausgeprägte Schuppenkleid auf. Viele Karpfenfische zeigen dieses Merkmal, doch beim Alet sind die Schuppen aussergewöhnlich gross. Bei alten Exemplaren erreichen sie den Durchmesser eines Fünflibers. Typisch für die Mitglieder dieser Fischfamilie sind rundliche Schuppen, die im Rhythmus mit den Jahreszeiten und dem wechselnden Futterangebot in konzentrischen Ringen wachsen, so genannte Cycloidschuppen. Wie bei einem Baum lässt sich anhand der Ringe auch das Alter bestimmen.

Urfische, die vor mehr als 400 Millionen Jahren lebten, schützten sich mit einem Panzer aus dicken, mit extrahartem Schmelz beschichteten Knochenplatten vor furchterregenden Räubern wie Seeskorpionen und Riesenkalmaren. Im Lauf der Evolution wurde die Fischpanzerung immer leichter. Die geniale Lösung, mit der sich heute die meisten modernen Knochenfische schützen, nennen wir Schuppen. Es sind dünne, elastische Knochenplättchen, die in der Haut eingebettet sind und sich wie Dachziegel überlappen. Diese Bauweise bietet einen ausreichenden Schutz gegen Verletzungen bei massiv weniger Gewicht und enorm verbesserter Bewegungsfreiheit. Manche bodenbewohnenden Fischarten wie der Aal haben das Schuppenkleid sogar ganz abgelegt und setzen auf eine dicke, ledrige Haut. So lässt es sich noch besser schlängeln...

Der Alet leistet sich einen altmodisch wirkenden, starken Panzer, der ihn allerdings besser gegen Feinde wie grosse Raubfische, fischfressende Vögel und Fischotter schützt.

Reizende Pickel

Die Fortpflanzung der meisten Karpfenartigen ist eine heftige, hektische und ganz und gar nicht private Sache. Oft jagen sich Dutzende, ja Hunderte von sichtlich erregten Fischen kreuz und quer durchs Laichgebiet. Der Alet bevorzugt für die Ablage seiner Eier flache, kiesige Stellen mit deutlicher Strömung. Bei diesem wilden Treiben kommt es zu intensivem Körperkontakt, der die Fische stimuliert, bis sie bereit sind für den Höhepunkt. Dabei schmiegen sich meist mehrere Männchen eng an ein Weibchen. Rogen (Eier) und Milch (Spermien) werden in Wolken abgegeben und durch kräftiges Wedeln der Schwanzflossen vermischt. Die Eier von der Grösse eines Senfkorns (bis zu 100 000 pro Weibchen!) fallen zum Grund und bleiben an Steinen und Pflanzen haften. Die knapp einen Zentimeter langen Larven schlüpfen je nach Temperatur schon nach ein bis zwei Wochen, werden weggeschwemmt und versammeln sich in ruhigen Uferzonen zu dichten Schwärmen.

Um den Reiz der Berührungen zu erhöhen, entwickeln die Alet-Männchen einen dezenten, feinkörnigen Hautausschlag auf dem Kopf, den man erst bei genauerem Hinschauen erkennt. Beim nahe verwandten Arten Brachsmen (Abramis brama) sind die grossen, weissen Sex-Pickel nicht zu übersehen.

Fische, die fremdgehen

Man braucht keine frivole Fantasie, um sich vorzustellen, dass bei den wilden Massenhochzeiten von Alet, Brachsmen & Co. ab und zu auch mal ungeladene Gäste mitmischen und fremdgehen. Diverse Arten haben ein sehr ähnliches Fortpflanzungsverhalten und nutzen auch ähnliche Laichplätze. Insbesondere in unnatürlichen Gewässern wie Kanälen und Stauseen.

Überraschend ist hingegen, wie viele dieser Zufallsbekanntschaften zu lebensfähigen und oft auch fortpflanzungsfähigen Hybriden führen. Die Cypriniden gelten als die mit Abstand kreuzungsfreudigste Wirbeltier-Familie. Das hat mit Eigenheiten ihrer Eier und Gene zu tun.

Am häufigsten „verkreuzt“ sich der Alet in Mitteleuropa mit der Laube (Alburnus alburnus), dem Rotauge (Rutilus rutilus) und der Rotfeder (Scardinius erythrophthalmus). Weiter im Osten findet man beispielsweise Hybriden mit dem Rapfen (Aspius aspius) und der Donau-Laube (Alburnus chalcoides).

Genetische Studien haben ergeben, dass sich der Alet im Tessin mit seinem südlichen Cousin, dem Cavedano (Squalius squalus) vermischt. Alet von der Alpennordseite wurden illegal als Köderfische ins Tessin mitgebracht und dann dort aus Gedankenlosigkeit oder Bequemlichkeit freigelassen. Die Alet-/Cavedano-Hybriden sind äusserlich nicht von ihren jeweiligen Müttern unterscheidbar.

Im Süden nichts Neues

Die Alpen sind eine wirksame Verbreitungsbarriere für Karpfenfische. Tiefe Temperaturen, starke Strömung in den steilen Fliessgewässern und ein karges Nahrungsangebot machen den allermeisten heimischen Cypriniden-Arten das Leben schwer. Eine Ausnahme ist die Elritze (Phoxinus phoxinus), die auch in Bergseen über der Waldgrenze vorkommt. Diese Bestände wurden allerdings von Menschenhand angesiedelt, um das Nahrungsangebot für Forellen und Saiblinge zu verbessern.

In der Schweiz findet man auf den beiden Alpenseiten verschiedene nah verwandte Cypriniden-Arten, welche dieselbe ökologische Nische im Gewässer nutzen, oder zumindest sehr ähnlich sind in ihrer Lebensweise. Auch der Alet hat so einen südlichen Doppelgänger. Auf den ersten Blick ist der Cavedano (Squalius squalus) kaum zu unterscheiden. Der einzig sichtbare Unterschied ist das Fehlen von Gelb- und Rottönen in den Flossen. Allerdings sind Farbmerkmale bei Fischen oft ziemlich variabel und taugen nicht als zuverlässiges Erkennungsmerkmal. Erst dank moderner genetischer Untersuchungsmethoden konnten Forscher überzeugend belegen, dass es sich beim Italienischen Alet um eine eigenständige Art handelt.

Weitere Nord-/Süd-Pärchen in unserem Land sind:

 

Alpennordseite                                                      Alpensüdseite

Nase (Chondrostoma nasus)                                Savetta (Chondrostoma savetta)

Strömer (Telestes souffia)                                     Strigione (Telestes muticellus)

Laube (Alburnus alburnus)                                    Alborella (Alburnus albidus)

Elritze (Phoxinus phoxinus)                                   Sanguinerola italiana (Phoxinus lumaireul)        

Rotfeder (Scardinius erythrophthalmus)                Scardola italiana (Scardinius hesperidicus)

Barbe (Barbus barbus)                                          Südbarbe (Barbus plebejus)

 

Die Einschleppung von gebietsfremden Arten über natürliche Verbreitungsgrenzen hinweg, und das sind die Alpen für viele Arten, kann starke negative Auswirkungen auf eine „Schwesterart“ oder sogar das ganze Ökosystem haben. Ein starkes Beispiel ist das Rotauge (Rutilus rutilus), das sich in den Tessiner Seen explosionsartig vermehrte, und verwandte Arten wie den Pigo (Rutilus pigo) und den Triotto (Rutilus aula) zurückdrängt, und darüber hinaus Alborellen, Felchen und Egli konkurrenziert.

Der Muschelfreund

Anfang des 20. Jahrhunderts war die Bachmuschel (Unio crassus) die häufigste Süsswassermuschel in Europa, und der Alet seit Urzeiten ihr verlässlicher Freund und Gehilfe bei der Fortpflanzung. Ihre bemerkenswerte Beziehung ist ein Bilderbuchbeispiel für eine zwar unfreiwillige, aber friedliche Kooperation. Doch in der Schweiz gibt es heute nur noch eine Handvoll Bäche, wo dieser ungewöhnliche Freundschaftsdienst stattfindet.

Die Bachmuschel war allgegenwärtig im einst fein gesponnenen Gewässernetz von Quellgräben, Wiesenbächlein und Talbächen sowie in den Uferzonen von Flüssen und Seen. Durch den Verlust von ungezählten Klein- und Kleinstgewässern, Wasserverschmutzung und Überdüngung wurde der Lebensraum für die Schalentiere kontinuierlich kleiner. Heute stehen sie nicht nur in unserem Land vor dem Aussterben.

Bachmuscheln bilden Kolonien, aus Tausenden von Individuen bestehen können. Sie filtern Tag und Nacht organisches Material und Kleinlebewesen aus dem Wasser. Bis zu 30 Jahre dauert so ein geschäftig-bedächtiges Muschelleben, in dessen Lauf die unauffällig braun-olive Schale bis zu 10 Zentimeter lang wird.

Die Fortpflanzung der Muscheln ist zumindest aus Menschensicht eine ziemlich unromantische Geschichte. Die weiblichen Tiere nehmen die Spermien mit dem Atemwasser ein und befruchten damit bis zu 50000 Eier. Im Schutz der Schale entwickeln sich daraus winzige Larven (Glochidien) von der Grösse eines Mohnsamens. Eines schönen Sommertages werden sie von ihrer Muschelmutter ins Wasser entlassen.  Jetzt beginnt ein existentieller Countdown, denn sie sind in diesem Stadium nur wenige Tage „in freier Wildbahn“ lebensfähig. Ihr Weiterleben hängt davon ab, ob ein Fisch zufällig den Boden aufwirbelt, wo sie gelandet sind und sie einatmet. Allerdings nicht irgendein ein Fisch! Am liebsten eben ein Alet oder eine Elritze. Wieso die allermeisten Fischarten nicht als Bachmuschelbabysitter taugen, ist noch weitgehend unerforscht.

Gelangen die Glochidien rechtzeitig in einen passenden Wirt, verankern sie sich mit Haken und Haftfäden in den Kiemen. In der Folge lassen sie sich vom Epithel überwuchern. Sie ernähren sich vom umgebenden Kiemengewebe, was den Wirtsfisch nicht nachhaltig schädigt. Nach ein bis zwei Monaten sind sie bereit für ihr Leben als Jungmuschel. Sie lösen sich aus ihrem lebenden Nest und fallen zufällig irgendwo an den Gewässergrund  - unter Umständen kilometerweit entfernt vom Lebensort ihrer Eltern. Genau das ist das Konzept hinter dieser einseitigen „Freundschaft“. Löwenzahn nutzt den Wind, die Bachmuschel den Alet, um weiterzukommen.

Die roten Punkte zeigen Alet und mit Algen bewachsene, gut getarnte Bachmuscheln im letzten Ostschweizer Habitat.